Tristyle Blog – Das Laufen in der Krise: Jetzt erst recht! – von Melanie RaidlSchlimmer hätte das Jahr bis jetzt wohl kaum laufen können. Wortwörtlich. Covid ist uns immer noch dicht auf den Fersen, viele haben ihren Job verloren, können ihre Liebsten nicht sehen oder fühlen sich einsam. Laufen gehen? Wer hat dafür noch Kraft? Abseits von Home Office, Home Schooling, Quarantäne, Krankheiten und mehr ist an Laufveranstaltungen erstmal nicht zu denken. In dieser ungewissen Zeit ist es verständlich, dass das Lauftraining nachhinkt. Die mentale Gesundheit lässt es gerade nicht zu, wir sind akribisch auf der neuen Jobsuche oder das Geld wird knapp. Schlicht gesagt: Es gibt gerade größere Sorgen im Leben.

Als wäre Corona nicht schon Stress genug, ist auch einfach der Informationsfluss unaufhaltbar schnell. Meldungen kursieren rasend, fast auf die Sekunde genau. Neuinfektionen, neue Maßnahmen und Richtlinien. Das müssen wir alles erstmal verarbeiten, wir wollen doch niemanden gefährden und uns selbst auch nicht. Nebenbei sollen wir unseren Alltag bewältigen, auf alle Regeln achten, Kinder betreuen, arbeiten. Am Ende des Tages raucht der Kopf, es reicht. Doch gerade deshalb ist mir persönlich das Laufen gerade so wichtig. Und ich kann es jeder und jedem empfehlen, der* es Spaß macht, nicht damit aufzuhören. Egal wie weit, egal wie lang, egal wie schnell.

Man sagt nicht umsonst, dass Laufen wie Therapie wirkt

Laufen ist die Zeit am Tag, in der für mich nichts außer die richtige Atmung zählt. Oder die richtige Fußhaltung. Der Kopf gehört natürlich auch dazu. Manchmal ist er ausgeschaltet, sieht sich nur die Natur an und manchmal plane ich gefühlt mein ganzes nächstes Halbjahr gedanklich vor. Hin und wieder durchlebe ich Wünsche oder Träume während ich laufe. Bevor ich loslaufe stelle mich mental auf meine Pace ein, plane meine Route im Kopf, bereite mich darauf vor meinen Körper zu fordern. Ich entscheide mich bewusst dafür die Arbeit, den unzähligen Input von Medien, anderen Personen oder Nachrichten für die Laufeinheit einfach zuhause zu lassen. So wie ich den Hausschlüssel in meine Laufleggings zippe, lasse ich meine täglichen Belastungen hinter meiner Haustür in der Wohnung liegen. Und dann sind da nur noch ich und meine Beine. Ganz viele Gedanken laufen mir durch den Kopf, wie die Herde an Menschen am Start eines City-Marathons. Mit jedem Atemzug, den ich wieder auspuste, verarbeite ich sie. Dieser verdammte Virus, diese Ungewissheit, diese Unberechenbarkeit und die Angst davor, was als nächstes passiert. Doch ich weiß, in dem Moment, wo ich loslaufe interessiert mich nur, ob ich die vorgegebene Pace halten kann. Welche Menschen, Tiere oder Pflanzen ich eventuell auf dem Weg sehe. Wie viele Kilometer noch vor mir liegen. Wo die nächste Steigung kommt. Mit jedem ausatmen, jedem Meter und jedem Schweißtropfen verliere ich ein bisschen dieser andauernden Anspannung im ganzen Körper. Man sagt nicht um sonst, dass Laufen wie Therapie wirkt.

Nicht zur Selbstoptimierung, sondern zur Selbstfürsorge

Tristyle Blog – Das Laufen in der Krise: Jetzt erst recht! – von Melanie RaidlUnd wofür das ganze? Es finden keine Laufveranstaltungen statt, Laufen in der Gruppe ist auch nicht okay. Es gibt kein Ziel mehr, keine Pläne. Als begeisterte Marathoni und Bergläuferin kann ich es verstehen, dass es in der Seele drückt, wenn das Laufjahr und die geplanten Rennen nicht stattfinden. Da legt man sich bereits Anfang des Jahres oder schon Monate davor einen Plan zurecht, welche persönlichen Rekorde man brechen will oder welche Distanz man gelaufen haben will. Plötzlich gibt es die Zieltermine nicht mehr. Man ist auf sich alleine gestellt. Ein virtueller Lauf? Wo bleibt denn da der Spaß? Alleine meine gewohnte Strecke laufen kann ich ja wie sonst auch alleine. Wieso sollte ich mich dabei online mit anderen vergleichen? In diesen Zeiten kommt keine richtige Wettkampfstimmung auf. Im ersten Lockdown dieses Jahres sprachen viele Menschen in sozialen Medien über die „perfekte Zeit, um jetzt fit zu werden“. Man hätte ja jetzt nichts anderes zu tun, könnte sich also auf das Sporttreiben konzentrieren. Für viele, auch Laufbegeisterte, großer Druck. Wie soll man sich in dieser Zeit der Ungewissheit auf das Besserwerden konzentrieren?

Vielleicht ist eben jetzt die Zeit da, um das Laufen nicht als Selbstoptimierung zu nutzen, sondern für die eigene Seelsorge. Mal einen Tag wild draufloslaufen, mal schauen wie viele Kilometer man so ohne Uhr schafft. Mal die Intervalle so richtig zerstören, damit sich ein Virus gar nicht mehr in den Körper hineintraut. Oder wie ich: Wenn der Stress zu groß wird, man sogar während eines Laufes weinen muss, eben eine Heul-Gehpause einlegt. Hat auch was Befreiendes. Aber nur nicht aufhören. Denn das Laufen kann ordentlich Kraft auftanken, Perspektiven im Kopf ändern und stressresistenter machen. Ich spreche zumindest aus persönlicher Erfahrung. Würde ich jetzt nicht mehr laufen gehen, bräuchte ich wohl einen richtig großen Boxsack, um meine Sorgen alle loszuwerden. Im Büro ist die Stimmung trist. Die, die sich nicht seit Wochen oder Monaten im Home Office verschanzen, wirken gestresst, sei es weil der Job nicht gesichert ist, oder noch mehr Arbeit anfällt, unter erschwerten Bedingungen. Dazu kommt: Jeder redet nur noch über Covid. Zahlen der Neuinfektionen, mögliche Ansteckungskontakte, politische Maßnahmen. Vielleicht geht es einigen von euch wie mir: manchmal muss man sich ausklinken, um noch bei Verstand zu bleiben. Und da haben wir es ja wieder: beim Laufen kann niemand mit einem darüber sprechen, die Welt wirkt heil. Es dreht sich alles um die eigenen Gedanken und die Bewegung des eigenen Körpers.

Den Grundstein für später setzen

Die Zeit, in der das Laufen wieder bedeutet, dass wir einem Marathonziel nach dem anderen hinterherjagen und im Startblock unsere „Konkurrenz“ abchecken, die wird bald kommen. Deshalb hat die Zeit jetzt, in der man wirklich nur für sich persönlich laufen kann einen schönen Nebeneffekt: Das Grundpflaster für ein ordentliches Marathontraining ist gelegt. Die nächste Post-Covid Laufsaison können wir mit neuer Frische, Grundausdauer oder neuer Motivation starten. Nur macht euch jetzt nichts draus, wenn euch manchmal der Kopf oder die Muse dazu fehlt, euch die Laufschuhe zu schnüren. Auch Läufer*innen dürfen in dieser Krise durchatmen, sind nicht dazu verpflichtet stark zu bleiben und so zu tun als würde die Welt gerade nicht verrücktspielen. Aber eins ist sicher, egal wie sehr euch diese Krise mitnimmt, ihr kennt dieses Gefühl, das Training bis zum Ende durchgezogen zu haben. Das Gefühl unter der Dusche, wenn man die eigenen Sorgen auf dem Asphalt gelassen hat und sich frei fühlt. Laufen hilft, auch in der Krise.

Melanie Raidl

MelanieRaidl

Ambitionierte Langstreckenläuferin, jagt als Bergläuferin auch Höhenmeter. Trainiert seit einigen Jahren bei Tristyle und hat seitdem bei zahlreichen Halbmarathons, Marathons und 10 Kilometer Läufen in Österreich und Ausland teilgenommen. Verbindet gerne ihren Job im Journalismus mit Sportthemen, liebt die Natur, mag gesunde Ernährung und ist Veganerin.