Es wird ein historischer Tag in Berlin: Der größte Marathon seit Beginn der COVID19-Pandemie und das Ende der Ära Merkel. Als Historikerin bin ich naturgemäß gerne dort, wo Geschichte geschieht. Heute ist es Zufall: Gebucht hatte ich bereits 2019 als Corona noch ein Bier war und 2020 ein (Lauf)Jahr wie jedes andere werden sollte. Nun ja, wir kennen die Geschichte, wieso ich 2021 zusammen mit 25.000 anderen in Berlin am Start stehe. Es soll mein dritter Marathon werden. Doch fangen wir knapp 36 Stunden vor dem Start meines Laufes an…

Jeder Läufer hat seine Geschichte

Berlin Marathon: Historisches Rennen dank einem Jahr Verspätung, Blogbeitrag von Daniela HaarmannIch stehe in Berlin Tempelhof. Das Gebäude fasziniert mich als Historikerin, als Läuferin interessieren mich die Geschichten der Läufer. Während man in den Schlangen steht oder bei einem namhaften Sponsor ein Radler konsumiert, hört man zahlreiche. So unterhalten sich ein 70-jähriger Mann und eine 72-jährige Frau über ihre Marathon-Erlebnisse am Polarkreis. Mit Überzeugung verkündet sie: „Dieser Berlin-Marathon wird der letzte Marathon für mich sein!“ – Man hört an ihrer Stimme, sie sagt es nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal.

Auf dem Weg zum Start begegne ich einem Mann aus Indien. Er erzählt mir, er sei 64 und liefe heute seinen 491. Marathon. Er fing erst spät an zu laufen. Seine erste Lebenshälfte war durch einen sehr ungesunden Lebensstil geprägt. Und da ist sie wieder, die Magie des Laufens: Man zieht sich ein Paar Laufschuhe (regelmäßig) an und man verändert sein Leben. Als ich ihn frage, ob er nach so vielen Marathons auch noch manchmal denkt „42km sind doch lang“, antwortet er mir nur: „You have to see it as an opportunity.“ – Worte, die mir knapp 1,5 Stunden später noch wichtig werden sollten.

Die Achillesferse namens „Kopf“

Der Marathon startet für mich um 9:35 in Block F. Dass ich meine (ohnehin sehr optimistische) Traumzeit von 3:30 (= 4:59/km) wohl nicht schaffen werden, wusste ich zumindest rational zu diesem Zeitpunkt schon. Das Wetter ist zu gut: über 20° und wolkenloser Himmel. Ich bin eher Regenläuferin und für 4:59 hätte alles stimmen müssen. Doch bekanntlich ist die Ratio die eine und die Emotio die andere Seite: Ich will 4:59/km probieren. Nach sechs Jahren Laufen, weit über 10.000 (eher 15.000) Trainingskilometern und zig Rennen hätte ich es besser wissen müssen.

Lange Geschichte, kurz erzählt: Bei KM 8 war ich so mies gelaunt wie sonst nur bei KM 38. Die Pace konnte ich nicht einmal ansatzweise laufen. Das lag nicht nur daran, dass mein Körper bei den Temperaturen keine 4:59 für 42 km laufen wollte. Es war auch wahnsinnig eng: einen Ellenbogen nach dem anderen, langsame Laufgruppen vor mir, wenig Überholmöglichkeiten. Es war mehr Nahkampf als Rennen. Dazu gesellte sich noch ein innerer Kampf in mir: Kopf gegen Kopf.

Der Kopf ist bekanntlich die Achillesferse des Läufers. Man muss das Mentale genauso trainieren wie das Körperliche. Auch das macht man auf den berühmt-berüchtigten 30+ km-LongJogs. Auf dieses Mentaltrainings berufe ich mich bereits jetzt in dieser sehr frühen Phase des Rennens. Ich erinnere mich an den 32km-Lauf bei -10° mit Wind im Frühjahr oder an den subtropischen 30°-Lauf mit 35km Länge in den frühen Morgenstunden im Juli. Mehr noch erinnere ich mich aber an einen Tipp, den mir meine Trainerin Elisabeth Niedereder ein paar Tage vor dem Rennen mitgab: „Lass dich nicht stressen!“ Und dann waren da noch die Worte meines indischen Freundes: „See it as an opportunity.“

Auf der richtigen Spur

Berlin Marathon: Historisches Rennen dank einem Jahr Verspätung, Blogbeitrag von Daniela HaarmannEs dauert einige Kilometer, bis ich diese Worte verinnerlichen und mein Mind-Set ändern kann. Dann wird das Rennen immer leichter. Die Kilometer fliegen dahin. Ich höre in meinen Körper hinein: Geht es ihm gut? Braucht er Wasser, Iso, Gels? Passt ihm die Pace? Die Zeichen deuten zu können, ist ebenso Erfahrung, für die es Training braucht. Der Körper signalisiert mir klar, er hat Spaß und wird das problemlos ins Ziel laufen. Auch der Kopf hat inzwischen seine Freude gefunden und ist im „Flow“.

Und plötzlich ist „mein“ historischer Moment schon gekommen: der Lauf durch das Brandenburger Tor, ein paar hundert Meter vor dem Ziel. Der Körper dreht zu diesem Zeitpunkt noch mal auf 4:50/km. Ich laufe schließlich mit 3:42:40 über die Linie. 3:30 habe ich zwar weit verfehlt, aber meine alte PB immerhin um 7,5 Minuten geschlagen und Platz 152 in meiner Altersklasse erreicht.

Hartes Training, weiche Landung

Berlin Marathon: Historisches Rennen dank einem Jahr Verspätung, Blogbeitrag von Daniela HaarmannEin paar Stunden später sitze ich bei der traditionellen „Pizza danach“ (nein, gesünder geht es nach einem Marathon nicht, außer vielleicht Pommes und Burger bei einer Restaurantkette mit Clown… kleiner Scherz). Bei diesem nicht ganz jugendfreien Genuss lasse ich den Tag und die Vorbereitung noch einmal Revue passieren:

Über 2.000 Trainingskilometer liegen hinter mir, seit ich im Januar mit den 30er-LongJogs begann. Bei Wind und Wetter war ich draußen: Gewitter, Hagel, starker Regen, Hitze, Schwüle… aber nur so kommt man ins Ziel. Dazu kommen noch Krafttraining, Ernährungsumstellung und viel Entbehrungen auch auf Seiten meiner Liebsten. Dass mein Körper das so souverän gemeistert hat, mein Kopf sich anpassen konnte, waren das Ergebnis von diesem konsequenten Training, einer professionellen Trainingsplanung, intensiver Betreuung und bedingungsloser Unterstützung daheim. Auch das (unfreiwillige) Zusatzjahr war förderlich für die heutige Performance.

An diesem Sonntagabend wirken die Geschichte der Läuferinnen und Läufer (inkl. meiner eigenen) weitaus beeindruckender und nachhaltiger als die historische Wahl, deren erste Hochrechnung grad auf dem TV aufflackert. Marathon vier und fünf sind schon gebucht, auch der erste Ultra steht 2022 an. Ein klein wenig Erholung (darf nie zu kurz kommen!) und dann freue ich mich schon wieder auf die 30er im Winter.

Daniela Haarmann

Daniela Haarmann

Historikerin für österreichische und ungarische Kultur- und Identitätsgeschichte im 18. Jahrhundert in Wien und Budapest, leidenschaftliche Läuferin. – Neben dem Laufen auch gerne im Wasser, in Büchern versunken oder beim Sprachenlernen.