Melanie Raidl

Auch mit Vollzeitjob und stressigem Leben kann man zum Marathonläufer werden. Ich stellte mir das ganz einfach vor. Bis ich bei meinem letzten Marathon ab Kilometer 32 eine Gehpause einlegen musste.

„Wer steht allen Ernstes um 5 Uhr für ein Lauftraining auf?“ – Diese Frage haben mir schon einige Freunde gestellt. Tatsächlich frage ich mich das gerne selbst, wenn ich um 5.30 Uhr in den Wintermonaten die Laufschuhe schnüre und mich in der Dunkelheit in Sturmhaube und Mundschutz durch den Schnee kämpfe. Es ist nicht die Freude daran, auf wertvollen Schlaf zu verzichten, die mich so früh zum Training animiert. Meistens ist es eine Verpflichtung, die danach meinen gesamten Tag einnimmt. Es wirkt ja manchmal so, als würden wir Läufer nichts anderes tun, als trainieren, essen und schlafen. Als würde uns nichts anderes interessieren. Wir posten Bilder von unseren Trainingstagen auf Instagram, schreiben darunter wie sehr uns das Laufen erfüllt. Dabei haben die meisten von uns einen Vollzeitjob, eine Familie oder andere wichtige Verpflichtungen im Leben, die genauso viel Kraft erfordern.

Seit ich Läuferin bin, gehört für mich das Training zu meinem Alltag, wie Zähneputzen, oder schlafen. Wie eine Verpflichtung, die eben am meisten Spaß macht. Meine sportlichen Wettkämpfe plane ich meist ein Jahr im Voraus und weiß somit in etwa genau, wann in dem Jahr ich in welcher Trainingsphase sein werde. Meine Urlaube plane ich um die Laufevents, oder sie werden mit Urlaub kombiniert. Ich habe mich eigentlich nie gefragt, ob ich auch einmal keine Zeit mehr für das Laufen haben werde.

Dann trat ich zum ersten Mal eine Vollzeitstelle an. Als Journalistin wusste ich, dass die Arbeitszeiten sehr unregelmäßig und auch Überstunden keine Seltenheit sein werden. Aber laufen geht immer – dachte ich. Etwa drei Monate nach meinem ersten Arbeitstag sollte ein Marathon für mich anstehen. Mein Training sollte einfach vor, im Notfall nach, meiner Schichten erledigt werden. Ich fühlte mich anfangs als richtige Powerfrau. Frühmorgens auf, Training abspulen, mit vollem Elan ins Büro spazieren und mich um völlig andere Themen kümmern. Mal schlief ich morgens etwas länger, dann musste ich beim Laufen extra Gas geben oder das Stretching auslassen. Weil ich manchmal eine Runde mehr drehte, musste ich zu meinem Zug sprinten, um rechtzeitig zu meinem Pressetermin außerhalb der Stadt zu gelangen. Die Frisur konnte ich dann erst in der Zugtoilette zurecht rücken. Egal, Hauptsache das Training ist im Kasten. Hin und wieder nahm ich meine Laufklamotten direkt mit ins Büro, um nach Tagesende direkt loslaufen zu können. Abends nach ein bis zwei Überstunden ging es oft noch ins Fitnessstudio, obwohl ich lieber auf meinem Sofa die Beine hochgeworfen hätte.

Arbeitstermin Marathon

Hatte ich Wochenendschicht und gleichzeitig einen 30 Kilometer Long Jog auf dem Plan, musste ich eben auch Sonntags um 5.30 Uhr aufstehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Energie, die ich im Training verlor, in der Arbeit noch einmal aufbringen musste. Und so ging es weiter. Ich schrieb, und lief und schrieb und lief, führte Interviews und lief, musste reisen, und lief. Der Marathon kam immer näher, die Aufgaben in der Arbeit wurden mehr. Aber ich war motiviert, hatte doch meinen Trainingsplan strikt eingehalten. Ich wollte meine Bestzeit knacken und unbedingt unter 3 Stunden 15 Minuten laufen.

Melanie Raidl, Vienna City MarathonDer Marathontag kam schneller als gedacht. Normalerweise zähle ich die Tage, plane die unmittelbare Zeit davor genau, was ich tun muss, um bestens vorbereitet zu sein. Ich achte genau auf die Ernährung, auf genügend Schlaf und Dehnungseinheiten. Vor diesem Marathon, das weiß ich noch genau, saß ich abends noch im Büro und erzählte einer Arbeitskollegin, die mich nach meinen restlichen Plänen für das Wochenende fragte: „Ach ja, ich mache morgen beim Vienna City Marathon mit!“ Der Marathon fühlte sich an wie ein weiterer Termin, den ich schnell abarbeiten musste.

Und am Sonntag ließ mich dieser Termin auch tatsächlich spüren, was ich in den Wochen davor alles falsch gemacht hatte. Es kam auf mich zurück wie ein Wackelturm, aus dem man den letzten stabilen Baustein rauszieht, und der dann in Millisekunden auseinander fällt. Ich hatte ab Kilometer 30 keine Puste mehr, sogar Seitenstechen plagten mich. Meine Beine fühlten sich an wie Betonklötze, die ich ins Ziel befördern sollte. Es war mehr als nur der Mann mit dem Hammer. Ich schleppte mich zwar mit einigen Gehpausen und etwas über zehn Minuten meiner Bestzeit über die Ziellinie, wusste aber sofort: Der nächste Marathon wird auf keinen Fall noch ein Nebenbei-Termin.

Zeit für Zeitmanagement

Ich besprach alles mit Trainerin Lissi und wusste, dass ich einfach mit der Änderung meiner Lebensphase falsch umgegangen war. Mir wurde bewusst, dass ich vergessen hatte, auf meinen Körper zu hören. Die Arbeit benötigte meine volle Konzentration. Es war also Zeit für eine Umstellung, die lange fällig war. Das Laufen endlich an meine Arbeitswelt anzupassen.

Das Erste, das ich lernen musste, war die richtige Zeiteinteilung. Begann mein Arbeitstag etwas später am Vormittag, erledigte ich sowohl Lauf-, als auch Krafttraining möglichst vor meinem Dienst. War ich am Vortag erst nachts erschöpft zu Hause angekommen, musste aber am nächsten Tag wieder früh raus, lief ich erst nach der Arbeit oder legte eben einen Ruhetag ein. Ich ließ mir die Freiheit, das manchmal auch erst in der Früh nach dem Aufstehen zu entscheiden. Mein Trainingsplan war dann in die Richtung flexibel gestaltet, dass ich Trainingstage tauschen konnte und auch mehr Ruhetage einlegen konnte, wenn es nötig war. Das Krafttraining bekam eigene Tage, an denen ich mich in der Zeit in der ich trainieren konnte nur auf den Muskelaufbau konzentrierte, dafür das Laufen ausfallen ließ.

Das zweite, das ich daher lernen musste war, auf meinen Körper und mein Gefühl zu hören. Wenn ich in der Früh nur eine Stunde Zeit für das Training hatte, mich aber kränklich oder erschöpft fühlte, sollte es wohl nicht sein. Oder wenn kurzfristig ein weiterer Termin eingeschoben wurde, und ich früher los musste, musste das Training eben warten. Wenn wenig Spielraum da ist, um für einen Marathon zu trainieren, muss man eben mit kurzfristigen Ausfällen oder Änderungen rechnen. Gerade wenn man viele stressige Tage im Beruf hat, sollte man sich nicht mit dem Training komplett zerstören, nur damit es erledigt ist. Ich musste erst verstehen, dass ein verpasstes Training nicht gleich bedeutet, dass man schlecht trainiert. Die Zeit die man hat effizient und bewusst zu nutzen ist meiner Erfahrung nach viel wichtiger. Schließlich soll das Laufen nicht nur Mittel zum Zweck für einen Erfolg im Wettkampf sein, sondern auch ein passender Ausgleich zum Berufsalltag.

Es ist in Ordnung, den Trainingsplan zu ändern, wenn es einfach zeitlich oder aus gesundheitlichen Gründen nicht einzurichten ist. Man sagt zwar, ein verpasstes Training kann nicht aufgeholt werden. Aber was ich gelernt habe ist, dass der Körper und auch der Kopf am besten weiß, was man gerade braucht. Sind es zwei Ruhetage hintereinander, dann ist es eben so. Wird aus dem zehn Kilometer Dauerlauf wegen Zeitstress in der Früh ein acht Kilometer Tempolauf, dann hat auch dieser einen positiven Effekt auf die Ausdauer. Natürlich sollte dann die restliche Trainingswoche angepasst werden. Verpasstes Training sollte dann auch nicht aus schlechtem Gewissen an die nächste Laufeinheit angeknüpft werden. Erfahrungsgemäß macht es wenig Sinn, an einem Tag gleich zwei Stunden mehr zu laufen, nur weil man den Plan nicht einhalten konnte. Verkrampftes Training kann sowieso kein gutes Training sein. Ich nahm die Wettkampfvorbereitung nach meiner negativen Marathonerfahrung einfach etwas lockerer.

Auszeit von Kilometersammeln und Pacemessen

Die dritte wichtige Säule ist, nicht zu vergessen, dass es auch noch ein Leben zwischen Lauftraining und Arbeit geben sollte. Freunde treffen, ein Kinoabend, Zeit für ein ausgewogenes Abendessen oder die Wanderung mit der Familie, die man schon lange machen wollte. Den Kopf einmal weg von Kilometern, Pace und Zeitmessung zu bekommen ist wichtig, um sich wieder auf die Bewegung zu freuen. Und Zeit mit Menschen, die einem Mut machen, trägt natürlich auch zur mentalen Stärke bei, die man für einen Marathon braucht.

Im Endeffekt muss man sich bewusst sein, dass sich ein ernsthaftes Wettkampftraining neben einem Vollzeitjob wie ein weiterer Job anfühlt. Vor allem ein Marathon ist und bleibt ein hartes Kaliber. Egal ob Anfänger oder Vollprofi, die 42 Kilometer, aber auch ein Halbmarathon, verlangen viel Zeitumfang in einer Woche, um tatsächlich gut vorbereitet zu sein. Es zählt auch die Regeneration dazu, effizientes Dehnen (ja, auch das ist wirklich wichtig!) und passendes Kraft- und Stabilitätstraining. Für mich persönlich war die Frage nie, ob ich noch ambitioniert laufen kann, wenn ich Vollzeit angestellt bin, sondern wie ich es mir einteilen werde. Wer sich eine realistische Routine schafft, sich keinen Stress um ein paar verpasste Kilometer oder ein paar ausgefallene Trainings macht, der kann es genauso schaffen, sein Lauf-Ziel zu erreichen.

Melanie Raidl

MelanieRaidl

Seit acht Jahren ambitionierte Langstreckenläuferin und jagt auch seit kurzem Höhenmeter als Bergläuferin. Trainiert seit vier Jahren bei Tristyle und hat seitdem bei zahlreichen Halbmarathons, Marathons und 10 Kilometer Läufen in Österreich und Ausland teilgenommen. Verbindet gerne ihren Job im Journalismus mit Sportthemen, liebt die Natur, mag gesunde Ernährung und ist seit 5 Jahren Veganerin.